Psychische Gesundheit: Gesundes Leiden – die „Z-Diagnosen“ (2024)

Psychische Gesundheit: Gesundes Leiden – die „Z-Diagnosen“ (1)Psychische Gesundheit: Gesundes Leiden – die „Z-Diagnosen“ (2)

Psychische Gesundheit: Gesundes Leiden – die „Z-Diagnosen“ (3)

Jeder ist einmal erschöpft, bedrückt, lustlos, traurig, freudlos, frustriert, verzweifelt oder verbittert. Foto: Fotolia/Robert Kneschke

Die Qualifizierung von lebensüblichen Beschwerden als „Krankheit“ hat weitreichende Folgen. Deshalb darf es nicht zu einem Diagnosenautomatismus kommen. Die Vergabe von Z-Kodes ist eine Alternative.

Eine allgemein bekannte Weisheit lautet: „Wer gesund ist, war noch nicht beim Arzt.“ Obwohl dieser Satz ironisch gemeint ist, stimmt es, dass kaum jemand ohne gesundheitliche Beeinträchtigungen lebt, sei es ein schlechter Visus, eine Pilzinfektion, Karies, Haltungsschäden oder Schlafstörungen. Auch gibt es niemanden, der keine psychischen Probleme hätte: Eine große Zahl negativer Gefühle stehen zur Verfügung, und es dürfte kaum ein Tag vergehen, an dem man nicht erschöpft, bedrückt, verstimmt, lustlos, traurig, freudlos, frustriert, verzweifelt, verbittert oder ängstlich ist. Wer zum Beispiel Ehestreitigkeiten hat, durch eine Prüfung fällt oder ein Ziel nicht erreicht, wird in der Regel leiden, trotzdem ist er oder sie gesund. Die Frage ist, wann von „gesundem Leiden“ und wann von „Krankheit“ auszugehen ist.

Ebenso stellt sich die Frage, wie die Antriebslosigkeit, Hoffnungslosigkeit, Angst, Schlafstörung, das körperliche Schweregefühl oder der Libidoverlust eines Menschen mit Herzinsuffizienz zu beurteilen sind. Sind dies Symptome der Herzinsuffizienz, oder muss der Patient als depressiv bezeichnet werden? Muss er mit Antidepressiva oder mit einer Psychotherapie mit Problematisierung seiner Elternbeziehung behandelt werden?

Das Problem der Diagnosezuschreibung stellt sich insbesondere im Bereich der gesundheitlichen Grenzfälle. Die Anzahl der Menschen mit Blutdruck in der Grauzone zwischen eindeutig krank und lebensgefährlich (durchgehend > 180 mmHg systolisch) einerseits und eindeutig gesunden Werten (<120 mmHg systolisch) ist bei 50-jährigen Männern größer als die eindeutigen Fälle. Dies gilt auch für depressive Syndrome oder Zustände schlechter Stimmung (1). Die Absenkung der Schwelle, von der an von Krankheit gesprochen wird, sei es mmHg beim Blutdruck oder die Zahl der Symptome auf der Hamilton-Depressionsskala multipliziert die Fallzahlen.

Unglücklichsein immer pathologisieren?

Bei vielen Krankheiten und speziell bei psychischen Störungen werden Diagnosen nach wissenschaftlichen Algorithmen gestellt. Dies kann allerdings die vorgenannten Probleme nicht ausschließen, da die Algorithmen auf klinischen Kriterien und vermeintlich exakten Definitionen aufbauen. Die Diagnose einer „Depression“ nach ICD-10 verlangt als unabdingbares „A-Kriterium“ das Leitsymptom einer „depressiven Verstimmung“. Wenn es diesbezüglich Unschärfen gibt, wie dies bei Diagnosen, die nur auf standardisierter Abfrage von Beschwerden beruhen, ohne psychopathologische Würdigung durch einen Experten, dann wird jedweder Zustand von Unglücklichsein zur Krankheit mit der Folge einer Explosion von entsprechenden Diagnosen (2). Die zunehmend diskutierte „Unwirksamkeit“ von Antidepressiva (3) und die steigenden Placeboresponseraten in einschlägigen Studien sind unter anderem dadurch zu erklären, dass wegen mangelnder Reliabilität und Validität der verwendeten Instrumente viele Nichtdepressive in solche Studien eingeschlossen werden, die eine hohe Fluktuation von Beschwerden zeigen und allein schon aus theoretischen Gründen nicht auf Antidepressiva ansprechen können.

Zusammenhang zwischen Betriebsklima und Fehlzeiten

Unabhängig von den fachlichen und technischen Problemen bei der Abgrenzung von gesundem Leiden gegen Krankheit sind auch Probleme der Patienten zu berücksichtigen. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass der Krankenstatus vielfältige soziale Ursachen und Konsequenzen hat. So gibt es eine Beziehung zwischen Betriebsklima und Arbeitsunfähigkeitsraten (4). Wer sich vom Chef schikaniert fühlt, kann sich unter Vortrag beliebiger Klagen „krankschreiben“ lassen und damit dem Arbeitsplatz fernbleiben. Zudem gibt es eine deutlich erhöhte „Konsumentenhaltung“ vieler Menschen gegenüber dem Gesundheitssystem. Beispiele sind die Vitiligo oder Hörstörungen im Alter. Dazu gehört auch die Zunahme prophylaktischer Untersuchungen, sei es Laborscreenings, Gesundheitschecks in Betrieben, Mammographien oder Prostata-screenings, die notgedrungen viele grenzwertige Befunde generieren. Schließlich können auch die Medien nicht nur zur besseren Informiertheit führen, sondern ebenso zu verstärkter Selbstbeobachtung bis hin zu einer Hypochondrisierung.

Es gibt auch soziodemografische Gründe für eine Zunahme grenzwertiger Störungen. Wesentliche Gesundheitsprobleme in Industriestaaten sind vom Lebensstil abhängig: Bewegungsmangel, Fehlernährung oder Dauerstress. Ein weiteres Problem ist der Verlust klassischer Beratungsstrukturen: Es fehlt die Großmutter, die der 1-Kind-Mutter erklärt, wann ein schreiendes Kind gesund oder krank ist, oder die sagen könnte, was normal ist, wenn man Bauchkneifen oder Ehestreit hat. Solche Faktoren können zu einer verstärkten Inanspruchnahme medizinischer Leistungen führen.

Unnötige oder schädliche Behandlungen als Folge

Die Qualifizierung eines „Leidenszustandes“ als „Krankheit“ hat weitreichende positive wie negative Folgen. Positive Konsequenzen sind die Zuordnung einer „Krankenrolle“ mit dem Anspruch auf soziale Rücksichtnahme und Hilfe, zum Beispiel sanktionsfreie Freistellung von der Arbeit und vor allem eine Behandlungserlaubnis. Die Behandlung eines Schwächezustands mit Diagnose ist eine Behandlung, ohne Diagnose Doping. Diagnosen dienen auch der Gesundheitsstatistik und professionellen Kommunikation. Zu geringen Teilen sind sie auch therapieleitend, wenngleich dies weniger von der Diagnose als vielmehr vom aktuellen Status abhängt.

Es gibt allerdings auch erhebliche Negativfolgen einer Diagnosestellung und dies insbesondere bei Zuschreibung einer psychischen Erkrankung. Jemanden als „krank“ zu bezeichnen, kann dazu führen, dass gesundheitliche Probleme aggraviert werden, Betroffene geängstigt werden, Selbstheilungskräfte unterminiert oder unnötige, wenn nicht schädliche Behandlungen eingeleitet werden. Schonverhalten und sogar berufliches Ausscheiden können die Folge sein, und es kann auch zu einer sozialen Stigmatisierung kommen. Dies gilt für Burn-out, Verstimmungszustände, Schlafstörungen, Rückenschmerzen, Bluthochdruck, Fettstoffwechselauffälligkeiten oder Prostatahyperplasie und -karzinome gleichermaßen.

Die Abgrenzung von „Krankheit“ einerseits und „Leidenszuständen“ andererseits, seien es Beschwerden oder Belastungen, ist eine zunehmend wichtige Aufgabe der Medizin. Es ist für einen Menschen ebenso wichtig, dass eine Erkrankung erkannt und adäquat behandelt wird, wie auch, dass lebensübliche alltägliche Beschwerden als „gesunde Erlebenszustände“ benannt werden. Dies betrifft nicht nur Dermatologen, die eine wichtige medizinische Leistung erbracht haben, wenn sie einen Leberfleck als gesund diagnostiziert und von einem Melanom abgegrenzt haben, sondern in besonderer Weise auch psychische Probleme.

Medizinisch ist die Feststellung, dass keine Krankheit vorliegt, oftmals schwieriger zu treffen als die Diagnose einer Krankheit. Müdigkeit und Erschöpfungsgefühl können völlig normale Reaktionen auf Schlafdefizite oder Überarbeitung sein. Sie können aber auch Symptome vielfältiger Krankheiten sein, von Schlafapnoe über Depression bis hin zu Karzinomerkrankungen. Ein Ausschluss aller Denkmöglichkeiten ist extrem aufwendig. Das Gleiche gilt für Magen- oder Herzdruck, Hautflecken, Rückenbeschwerden, Schlafstörungen oder Ängste. Daraus folgt, dass weder den Betroffenen noch den Ärzten oder klinischen Einrichtungen ein Vorwurf gemacht werden kann, wenn nach umfangreichen und gelegentlich kostspieligen medizinischen Maßnahmen das Ergebnis lautet: „Gesund“. Vonseiten der Kostenträger kann daraus nicht abgeleitet werden, dass dann eine missbräuchliche Leistungsinanspruchnahme oder -erbringung vorgelegen hätte. Die Betroffenen haben zu Recht den Arzt zur Abklärung aufgesucht. Es ist nicht nur diagnostisch eine Klärung erfolgt, sondern sie haben in der Regel auch eine adäquate fachliche Beratung und Unterstützung erhalten.

Es muss im Interesse der Betroffenen, aber auch der Sozialversicherungen verhindert werden, dass es nur wegen der Inanspruchnahme medizinischer Einrichtungen und Leistungen zu einem Diagnosenautomatismus kommt, indem aus Gründen der Abrechnungsrechtfertigung ICD-Diagnosen vergeben werden. Die Deutsche Rentenversicherung Bund hat daraus seit einem Jahr die Konsequenz gezogen, dass bei Patienten in Rehabilitationskliniken keine Fehlermeldung mehr erfolgt, wenn im Entlassungsbrief keine Krankheitsdiagnose, sondern ein „Z-Kode“ genannt wird. Z-Kodes findet man ebenfalls in der ICD-10 (Kasten). Sie umfassen Vorsorge- und Impfleistungen ebenso wie Probleme am Arbeitsplatz, in der Familie oder in der Lebensführung oder auch unspezifische Beschwerden ohne Krankheitswertigkeit.

Diese Kategorien haben in letzter Zeit verstärkt Aufmerksamkeit gefunden in Zusammenhang mit der Diskussion um das sogenannte Burn-out. Die Z-Diagnosen bieten die Möglichkeit auf dem Kontinuum zwischen „Krankheit“ und „gesunden Leidenszuständen“ eine für Patienten bedeutsame klinische Situation zu beschreiben, ohne gleich eine medizinische „Überversorgung“ zu induzieren und die Betroffenen durch eine Pathologisierung und ein „Labeling“ zu schädigen. Diese Z-Kategorien spielen in der täglichen medizinischen Praxis jedoch nur eine eher untergeordnete Rolle. Es sollte ihnen deutlich mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden.

  • Zitierweise dieses Beitrags:
    Dtsch Arztebl 2013; 110(3): A 70–2

Anschrift für die Verfasser
Prof. Dr. med. Dipl.-Psych. Michael Linden
Rehazentrum Seehof
Lichterfelder Allee 55
14513 Teltow/Berlin
michael.linden@charite.de

@Literatur im Internet
www.aerzteblatt.de/lit0313

Prof. Dr. med. Dipl.-Päd. Gensichen MPH,
Institut für Allgemeinmedizin Universitätsklinikum Jena
Prof. Dr. med. Dipl.-Psych. Linden,
Forschungsgruppe Psychosomatische Rehabilitation des Rehazentrums Seehof, Teltow

Zusatz(Z)-Kodes in der ICD-10

Hauptkategorien mit Bezug auf:

  • Z 55 die Ausbildung (zum Beispiel unzulängliche schulische Leistung)
  • Z 56 die Berufstätigkeit (zum Beispiel Arbeitsplatzverlust)
  • Z 57 berufliche Exposition gegenüber Risikofaktoren (zum Beispiel Lärm)
  • Z 58 die kommunale Umwelt (zum Beispiel Lärm)
  • Z 59 die Wohnverhältnisse (zum Beispiel Unstimmigkeit mit Nachbarn)
  • Z 60 die soziale Umgebung (zum Beispiel soziale Ausgrenzung)
  • Z 61 negative Kindheitserlebnisse (zum Beispiel Veränderung der Familienstruktur)
  • Z 62 die Erziehung (zum Beispiel Überprotektion)
  • Z 63 den engeren Familienkreis (zum Beispiel Tod eines Familienangehörigen)
  • Z 64 bestimmte psychosoziale Umstände (zum Beispiel Schwangerschaft)
  • Z 65 andere psychosoziale Umstände (zum Beispiel Verurteilung)
  • Z 72 die Lebensführung (zum Beispiel Mangel an körperlicher Bewegung)
  • Z 73 Schwierigkeiten bei der Lebensbewältigung (zum Beispiel Burn-out, Akzentuierung von Persönlichkeitszügen)
  • Z 74 Pflegebedürftigkeit (zum Beispiel eingeschränkte Mobilität)

Bei allen Hauptkategorien bestehen detaillierte Untergliederungen, zum Beispiel bei Z 56 Berufstätigkeit:

  • Z 56.1 Arbeitsplatzwechsel
  • Z 56.2 drohender Arbeitsplatzverlust
  • Z 56.2 belastende Einteilung der Arbeitszeit
  • Z 56.4 Unstimmigkeit mit Vorgesetzten oder Kollegen
  • Z 56.5 nicht zusagende Arbeit
  • Z 56.7 andere physische oder psychische Belastung
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